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Baldur Nitschke wird in nicht allzu weiter Ferne seinen 80. Geburtstag feiern. Anlässlich einer Busfahrt mit der Linie 125 durch den Wedding und Reinickendorf wird er Ohrenzeuge wie sich ein älterer Mann offenbar mit seinem Neffen unterhält. Der Inhalt dieses Gespräches empört ihn derart, dass er beschließt mit seinem Handy heimlich die Unterhaltung aufzunehmen.


Onkel Jürgen, meinst du es war eine gute Idee wieder in die Nähe von Berlin zu ziehen? Bist ja auch nicht mehr der Jüngste." Der Fragende ist ein junger Mann, der vielleicht Anfang Zwanzig sein könnte. "Maik, ich wohne doch gar nicht in Berlin und dir gefälllt Klein-Machnow doch auch. Außerdem habe ich es nicht weit nach Steglitz zur Schule. Der Umzug wird hoffentlich in drei Wochen beendet sein. Als nun Tante Gerda verstorben war, da gab es nur die Frage: Verkaufen und ein kleines Vermögen einzustreichen, was später im Altersheim uns zwischen den Fingern zerrinnt oder eben das Haus selbst zu nutzen. Davon hast du dann nach unserem Abnippeln auch noch was, falls kein anderer mehr erbberechtigt ist. Die Vermieter in Köln können es eh' kaum erwarten, bis wir ausgezogen sind um die Miete zu verfünffachen. Und bei euch in Frohnau ist es zu eng für eine Großfamilie, die wir nie waren, sondern eher jeder mit Abstand. Das vergangene Halbjahr war doch nur eine Notlösung, wobei Tante Ines auch noch die meiste Zeit in Köln wohnte. Schopenhauer vergleicht das mit Stachelschweinen und nennt die notwendige Distanz um sich nicht weh zu tun: Sitte und Anstand." Maik fängt an zu lachen: "Mit Sitte und Anstand hast du das ja sowieso nicht. Ich habe eine interessante Geschichte gefunden. Die habe ich sogar bei mir. Schau 'mal." Baldur Nitschke sieht, wie der junge Mann ein Schulheft schwingt, was schon etwas verblichen ist. "Wo hast du denn das her?" erkundigt sich der Mann. "Du hast mir doch einen Karton gegeben mit alten Fotos und dazwischen fand ich dieses Heft. Du machst deinem Beruf als Deutschlehrer alle Ehre. Obwohl der Hausaufsatz eine komplette "Fünf" ist und sich jemand mit dem roten Kuli richtig ausgetobt hat. Da ist auch noch etwas über ein Elterngespräch zu lesen." Der Jürgen grinst und kann es sich nicht verkneifen: "Das war die olle Wogebell. Die war eine fürchterliche Schnepfe im dunkelgrünem Kostüm. Sie hat sich tierisch ereifert über meine schöne Geschichte.

Ihr Pudel hieß 'Moppa', dessen Streiche sie uns ausführlich erzählte. In der Tat konntest du ihn umdrehen, an den Beinen anfassen und als Mopp benutzen. Ich weiß noch, wie wir vom Verkehrsübungsplatz kamen, wo uns ein Polizist über richtiges Verhalten im Verkehr belehrt hatte und wir danach zur Haltestelle am Bahnhof Zehlendorf marschierten. Die S-Bahn durften wir ja nicht benutzen, weil sonst der Senat die Fördergelder für die nicht öffentliche Schule sofort gestrichen hätte. Also latschten wir über die Hampsteadstraße, wo an der Ecke zwei Männer von der Post im Telefonschacht arbeiteten. Die Wogebell schrie ihre Befehle heraus, damit wir ja richtig die Straße überquerten und die Männer äfften sie nach und zeterten: 'Kinder rechtsrum-jetzt links weg vom Bordstein, anfassen...' Weiter kamen sie nicht. Denn wie ein Pfeil schoss sie auf die Männer zu und in gleicher Tonlage keifte sie: 'Ich bin eine Amtsperson und werde sofort die Polizei holen, damit Ihre Personalien festgestellt werden.' Wir Kinder waren begeistert. So etwas hätten wir uns nicht getraut. Aber es war lustig wie sie dort wütete. Also die Frau Wogebell ist neben anderen Lehrern stets ein negatives Vorbild für mich gewesen. So wollte ich nie werden und bin es glücklicherweise auch nicht. Ich denke meine Schüler am Beethoven-Gymnasium sehen das auch so."





"Ach so, deshalb lautet die Überschrift des Hausaufsatzes 'Sei ein Engel im Verkehrsgedrängel - wie ich mich im Verkehr zu benehmen habe', dann wird mir es sofort klar, wenn ich den folgenden Text lese." "Wolltest du jetzt den ganzen Hausaufsatz mit mir besprechen?" "Warum nicht, der Bus braucht doch noch eine Stunde und dann ist es nicht so langweilig." "Gut dann lese aber nicht zu laut, andere interessiert es vielleicht nicht so." "Onkel Jürgen, das muss schon mit Betonung gelesen werden. Sonst kann man ja deinen sprachlichen Ausdruck gar nicht richtig genießen." Baldur Nitschke, der schon sehr aufmerksam dieser Unterhaltung gefolgt war, schaltet heimlich die Aufnahmefunktion von seinem Handy ein.

"Wir, das sind eine Hand voll Kinder, die immer im Verkehr aufpassen sollen und Rücksicht nehmen müssen auf Erwachsene, wenn wir mit dem Dreiundfünfziger-Bus zur Schule fahren. Die S-Bahn dürfen wir nicht nehmen, weil die kommunistisch ist, wir mit unsern zwei Groschen dem Ulbricht seinen Stacheldraht finanzieren und aus Dankbarkeit für unsere amerikanischen Freunde, von denen Einer die Mitschülerin Regina aus der Klasse meines Bruders mit dem Panzer platt gefahren hatte, ohne dass er Ärger bekam, jetzt die doppelte Fahrzeit im Bus verbringen. Erwachsene sind komisch, sobald ein Ball zufällig auf den Rasen am Thomaskirchplatz fliegt, wo ich wohne, drohen sie mit Polizei und Heimunterbringung. Aber mein Bruder hat mir gezeigt, wie man Stinkbomben heimlich auf dem Boden im Bus zertritt und dann hinten ganz schnell aussteigt, weil da keine Drucklufttür ist, sondern frische Frühlingsluft. Das geht leider nur bei den ganz alten Bussen oder den Doppeldeckern wie dem "Einser" oder dem "Achtundvierziger". Die sind hinten offen. Darum müssen wir auch immer vorsichtig sein, wenn wir in der Nähe vom Ausgang sind.

Ich habe Frau Wogebell gefragt, was kommunistisch ist. Da hieß es, das hat etwas mit Marx zu tun. Das sei ganz schwierig und böse. Ich kann mir bloß nicht vorstellen, was denn so schwierig an einem Marxknochen sein soll. Meine Mutter kauft die bei dem Fleischer und kocht die leckere Nudelsuppe daraus. Ist doch eine tolle Erfindung. Nach ihm ist in Neukölln sogar eine Straße benannt. Aber heute stand die Terrine mit der dampfenden Suppe noch nicht auf dem Tisch, weil wir nach der fünften Stunde zwar Schulschluss hatten, doch von der Schule erst zur Haltestelle Elvirasteig laufen müssen. Wir sind zwei Mädchen und drei Jungen, von denen ich der Älteste bin. Jetzt müssen wir eine Viertelstunde warten, bis der nächste Bus kommt. In der Zwischenzeit möchte ich etwas über die Linie des Dreiundfünfzigers berichten. Heute morgen bin ich wie immer am Thuner Platz in den Bus gestiegen. Manchmal ist auch ein Schulkamerad dabei, aber heute war ich allein. Dann gibt es viele Fahrgäste, welche an der Haltestelle Dahlemer Weg warten. Da ist auch ein Bahnübergang, wo die Goertzbahn Güterwagen zur Fabrik ' die Spinne' zieht.

Die Spinne stinkt oft, aber das stört die Menschen am Dahlemer Weg nicht. Sonst würden sie wegziehen und nicht mehr mit dem Bus fahren.



Eine alte Frau mit einem Haarknoten, wo der Vater eines Freundes immer "Portierzwiebel" zu sagt, verlangt einen "grünen" Umsteiger. Ich hab' einen Kontrolleur gefragt, was das ist. "Das ist ein Umsteiger für Behinderte", sagte er. Doch bei der Frau ist alles dran. Vielleicht liegt es an der Portierzwiebel. Die sieht auch seltsam aus. Der Bus fährt dann durch die Seehofstraße. Das ist immer sehr schön, da kann man denken, wir würden in einer Kleinstadt ohne Mauer und Stacheldraht wohnen, wo wir einfach den Ort mit dem Fahrrad verlassen können um im Wald eine Hütte zu bauen. In Berlin ist das streng verboten. Da muss man am Sonntag im Grunewald mit Tausenden einen Waldweg rauf und runter laufen, darf an dem Weg zum See an den Villen vorbei an der Dampferanlegestelle nicht einmal einen Stein auf dem Wasser titschen lassen, sondern muss dann mit dem Dampfer und ungezählten alten Schachteln und Tattergreisen sich die Villen vom See aus anschauen und am anderen Ufer ist alles leer, doch das ist die böse Zone mit Kommunismus. An der Hampsteadstraße ist alles vorbei. Wieder alte Häuser mit Hinterhof, so wie bei uns zu Hause und dann kommt der S-Bahnhof Zehlendorf. Da gibt es so ein eigenartiges Plakat. Den Text verstehe ich nicht: "Reisende, achten sie bei der Fahrt in Richtung Potsdam auf Mitreisende, die eingeschlafen sind und wecken sie die vor dem Erreichen des Bahnhofs Wannsee, weil bei Weiterfahrt ohne Erlaubnispapiere eine Festnahme durch die sowjetzonalen Grenzorgane droht."

Merkwürdig, die Züge enden doch alle in Wannsee und da ist das Freibad und keine Grenze mit solchen Organen. Dann fährt der Bus aber um die Ecke und dann wird es voll. Von einigen Fahrgästen werden wir angeschnauzt, ob wir nicht gefälligst aufstehen wollen. Es ist für uns Kinder nämlich verboten zu sitzen, wenn ein Erwachsener stehen muss. Dann müssen wir ihnen sofort den Sitz anbieten und uns in der Mitte aufstellen. Da steht aber immer schon freiwillig ein Polizist, der am U-Bahnhof Krumme Lanke aussteigt, weil dort in der Argentinischen Allee die Polizeidirektion ist. Der hat aber noch nie gemeckert, wenn wir da saßen. Am schlimmsten sind die ollen Schachteln mit ihren Kötern. Manche tragen grüne selbstgestrickte Pullis - die Hunde natürlich, nicht die ollen Schachteln.Die setzen sich dann sofort hin und nehmen ihre Hündchen auf den Schoß, weshalb sie auch Schoßhündchen heißen. Die sind es auch, die als erstes rumstaketern, dass wir wohl keinen Anstand mehr in der Schule lernen - die ollen Schachteln natürlich. Dann pflanzen sie sich auf die vorgewärmten grünen Plastepolster, während wir anständig stehen müssen. Da fällt mir ein, warum der Polizist nie etwas zu uns sagt. Der hat nämlich einen Polizeihund bei sich. So ein richtiger Schäferhund und wenn der Polizist den auf den Schoß nimmt, kann er ja nichts mehr sehen."




"Goerzbahn", Stichbahn von S-Bhf. Lichterfelde-West
den Dahlemer Weg zum Industriegebiet amTeltow-Kanal
führend, im Bild mit VW 1500 beladen für den Großhändler
Eduard Winter

Die "Spinne" war die Spinnstoff-Fabrik-Zehlendorf


Linie 1 Richtung Schlesisches Tor (Kleinprofil) bei der Überquerung des Landwehrkanals


"Du hast eine brillante Logik", lästert Maik," aber für einen Zwölfjährigen ist das beachtlich. Da fällt mir ein, dass ja vor einer Woche das endgültige Urteil im Prozess zwischen der Berliner Verkehrsgesellschaft und dem Designer, wo es um die Urheberrechte an diesen fiesen Samtpolstern und dem abartigen Muster aus einem Würmergewimmel mit einem Vergleich endete. An die grünen Plastikpolster kann ich mich noch erinnern, als ich ein kleiner Junge war. Die S-Bahnzüge hatten auch solche Sitzbezüge." "Maik, das stimmt nicht ganz. Wir sind als Schüler ja doch heimlich mit der S-Bahn gefahren. Bis es dann mal wieder Ärger von der Schulleitung gab. Aber die Monatskarte für den Bus kostete das Doppelte von der S-Bahn Monatskarte. Außerdem waren wir fast immer allein im Zug, weil ja der obrigkeitshörige Westberliner nicht die sowjetzonale Reichsbahn benutzte. Diese Untertanengeister wussten allerdings nicht, dass die S-Bahn in Westberlin Eigentum einer westlichen Treuhandgesellschaft war, die den Westalliierten gehörte. Nur hin und wieder setzte die Reichsbahn Wagen aus Ostberlin ein. Die waren schön grün gepolstert, statt der westlichen Holzsitze. Das Lustigste war aber, als einer aus meiner Klasse dringend pinkeln musste und auf dem langen Stück zwischen Lindenthaler Allee und Zehlendorf die Türen im Traglastenabteil aufzog, wo wir ganz alleine waren, um genüsslich im hohen Bogen hinaus zu pinkeln."

"Lustig Onkel Jürgen, da kann er ja von Glück sagen, dass das nicht in der U-Bahn war. Denn auf einigen Strecken haben die ja eine von oben bestrichene Stromschiene.



Na, ich lese mal weiter:

”... Wenn der Polizist ausgestiegen ist, dann bin ich auch bald dran. Weit bis zur Schule ist es nicht mehr.

Jetzt kommt der Bus. Es ist ein "Einmannwagen". Man muss vorn beim Fahrer einsteigen und seinen Fahrschein oder die Monatskarte vorweisen. Wir achten immer darauf ordentlich durch den Gang nach hinten zu gehen und keinen anzurempeln. Als Erster bin ich bei der hinteren Sitzbank. In der Mitte sitze ich am liebsten. Denn in der Seehofstraße gibt es nach der Kurve am Vierstückenpfuhl einer herrliche Bodenwelle. Wenn man locker sitzt und sich nicht festhält, fliegt man dann in die Luft. Meine Klavierlehrerin befolgte meinen Rat, sie fand das aber nicht lustig. Sie meinte ihr Rückgrat wäre fast gebrochen und das mit 75 Jahren. Wahrscheinlich fehlt den alten Leuten die Lockerheit. Doch heute kann ich mich nicht dort hinsetzen. Auf dem Polster liegt ein kleines braunes Häufchen, was schon etwas verschmiert ist, denn es zieht sich eine braune Pampe an der Sitzkante runter. Messerscharf schließe ich, dass da so eine Alte mit ihrem Fifi gesessen hat, der einfach kackte und die Olle dann ganz schnell den Bus an der nächsten Haltestelle verließ...' Übrigens 'kackte' ist von der Frau Wogebell dreifach unterstrichen, am Rand steht: 'Fäkalsprache' die war wohl etwas ete petete.” “Oh ja, wenn sie Schulhofaufsicht hatte, dann rief sie immer: 'Gehen – nicht Laufen!' oder statt dem berlinerischen 'Kloppen' lächerlich vornehm: 'Es wird nicht geklopft!” “Unglaublich. Ich lese weiter:'.. die anderen Schüler folgen mir und die Mädchen fangen an bei dem Anblick an 'Iih' zu schreien. Da kriege ich eine tolle Idee. Ich beruhige sie und schlage vor, dass wir uns wie gut erzogene Kinder in der Mitte hinstellen, statt zu sitzen und einfach abwarten, wann sich da jemand drauf setzt. Das wäre doch die absolute Krönung. Sie befolgen es. Wir benehmen uns als richtige Engel im Verkehrsgedrängel - so wir wir es mit Frau Wogebell auf dem Verkehrsübungsplatz am Schweizerhof gelernt haben. Wir müssen leider noch auf Fahrgäste warten. In "Krumme Lanke" steigen nur wenige ein und setzen sich vorn auf die Seitenbänke. Der Bus fährt durch die Fischerhüttenstraße und zwei Mädchen werden schon unruhig, weil sie am Rathaus Zehlendorf aussteigen müssen. Endlich stehen viele Leute an der Haltestelle Nordschule. Das ist eine gruselige Schule, sagt ein Klassenkamerad von mir, bevor er zu uns wechselte. Das Schulgebäude sieht auch danach aus, ist bestimmt uralt, wo man noch den Rohrstock abkriegte. Bei uns zerdrischt immer nur der Musiklehrer Herr Kontur den Zeigestock auf den Tischen, wenn wir laut sind. Wir sehen, wie ein großer älterer Mann im grauen Mantel und mit Hut nach hinten stürmt und ruft: "Mathilde, hier sind noch Plätze frei." Die Mathilde schnauft wie eine Fregatte und um ihren Hals pendelt so etwas wie ein Fuchsschwanz. Der Mann pflanzt sich treffsicher auf das Hundehäufchen und macht es sich bequem, seine Frau sitzt jetzt auf der Zweierbank vor ihm. Ich gebe ein Zeichen und die Mädchen fangen an zu rufen: 'Iiih, das ist ja eklig, bääääh, wie können Sie da nur drauf sitzen und wie das stinkt...' Der Mann schaut sich verwundert um, seine Frau wundert sich auch, und andere Fahrgäste von vorn drehen sich um. Jetzt erkläre ich mit lauter klarer Stimme dem Mann:' Sie sitzen da auf einem Haufen Hundescheiße!' Wie eine Rakete zu Silvester schießt der Mann hoch und dreht sich um. Er ist fassungslos und sucht nach einem Halt. Der Bus biegt in die Potsdamer Straße und ihn diesem Moment ruft seine Frau: 'Theo, du bist hinten ganz braun, das geht doch nie raus!'”





Linienverlauf und Skizze des Büssingbus E 2U59/60
(Originalscans aus dem BVG Winterfahrplan 1966 aus eigenem Archiv)

Sag' mal, mein Lieber Onkel Studienrat Jürgen Haenschke, wusstest du damals schon was 'braun sein' noch bedeutet?" "Na sicher Maik, du weißt doch, dass der Vater von Onkel Leo in Auschwitz vergast wurde, während sein Sohn im Ghetto war. Ich habe schon als kleiner Junge gelernt, dass die Beamten in den westdeutschen und Berliner Behörden durchsetzt mit Nazis sind. Als damals der Freund von Onkel Leo, Rudolf Wolfsohn, den ich immer wegen seines Klavierspiels bewunderte, aus den USA wegen der Entschädigung in Berlin war, da hat er doch auf dem Amt einen wieder getroffen, der damals für die Deportation zuständig war und jetzt Entschädigungssachen für die überlebenden Juden bearbeitete. Als ihm dann noch so eine weitere Sachbearbeiterin dämlich kam,da ist er dann ausgerastet. Er zerrte die Frau zum Fenster, öffnete es und drückte sie gegen den Rahmen, wobei er schrie: 'Was willst du - du olle Pissnelke?' Heute ist das undenkbar, der würde verhaftet und vor Gericht gezerrt. Damals gab es noch so etwas wie einen Funken von Scham und infolge dieses Vorfalles haben danach unsere Tanten Martha und Carlotta dann sämtliche Entschädigungssachen für Verwandte und Freunde von Onkel Leo ohne Probleme durchgeboxt." "Also war das auch zweideutig gemeint?" "Nein, da habe ich ehrlich gesagt gar nicht dran gedacht. Aber wo du das sagst, da muss ich der Frau von dem Angeschmierten, dieser Mathilde, doch recht geben. Bei einem anständigen Deutschen geht das Braun nie raus, trotz häufiger Weißwäschen." "Ok, dann habt ihr euch nur über diesen Mann beömmelt, denn es heißt weiter:

"Wir müssen lachen und ein weiterer Mann schimpft: 'Über den Schaden anderer Leute macht man sich nicht lustig. Ich werde euch melden. Aus welcher Schule kommt ihr?' Schlagfertig antwortet der Detlef: 'Kennen Sie die Schulen an der Wannseebahn? Da sind wir schon in der sechsten Klasse!' Das ist aber keine Lüge gewesen. Denn es gibt die Schulen wirklich, nur heißen sie 'Baumschulen'. Der Mann antwortet mit Kopfnicken und erhobenen Zeigefinger: Oh ja, die kenne ich. Ich wohne dort gleich um die Ecke. Morgen bin ich bei eurem Schuldirektor. Wie heißt der?' 'Fichte', entgegne ich, 'Hubert Fichte.' So heißt der Schriftsteller eines Buches, was mein Bruder gerade liest. Nun lachen die Mädchen aus vollem Halse. Durch diesen Vorfall haben wir gar nicht bemerkt, dass der Bus an der Haltestelle Clayallee-Teltower Damm schon länger steht und vorn beim Fahrer ein Kollege steht, der jetzt nach hinten kommt und sich die Bescherung ansieht. Laut sagt er: 'Der Bus muss sofort in den Betriebshof. Bitte alles aussteigen!' Da ist die Vorstellung zu Ende und wir müssen noch eine Viertelstunde auf den nächsten Bus an der Haltestelle warten. Doch wir haben für die Erwachsenen freiwillig die Sitzplätze frei gehalten, also sind wir Engel im Verkehrsgedrängel. Für den Hund können wir nichts."




Der 68er in der Schloßstr. Haltestelle Titania-Palast

Krass, kein Wunder, dass sie dir eine 'Fünf' gegeben hat. Die hat sich bestimmt schimmelig geärgert über diesen grandiosen Aufsatz. Denn von der Sprache ist das für einen Zwölfjährigen eine Meisterleistung. Alle Achtung."


"Danke Maik, ich habe schon als Kind gern geschrieben und Geschichten erfunden. Doch dieser Vorfall zeigt so richtig die Westberliner Mentalität dieser Zeit. Es sollten nur noch wenige Jahre vergehen, bis zur Ermordung von Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke. Doch diese Stimmung ist stabil und hält sich bis heute bei den Eingeborenen.

Als ich fast zehn Jahre später mein erstes Schulpraktikum an meiner alten Grundschule absolvierte, da fuhr ich auch mit dieser Buslinie und mich umgab eine muntere Schülerschar. Sie waren aufgedreht, was bei sechs Unterrichtsstunden ja nicht ungewöhnlich ist. Doch waren sie viel braver als wir damals. Irgendwo auf der Fischerhüttenstraße stieg dann so eine alte Meckertante in den Bus und man sah, wie ihre Mundwinkel entgleisten. Sie hatte wohl spitz gekriegt, dass ich die Kinder mit ihren Vornamen kannte. Plötzlich kläfft sie mich an: "Können Sie nicht mal für Ruhe und Ordnung hier sorgen?" Von den Kollegen an der Schule bekam ich als erstes zu hören, bei solchen Anwürfen immer zu schweigen und keinesfalls die Konfrontation zu suchen. Es soll wohl schon vorgekommen sein, dass sich schnell ein Lynchmob gegen den Lehrer bildete. So blieb ich stumm wie ein Fisch und schaute an ihr vorbei. Sie ließ nicht locker: 'Sie sind doch der Lehrer, Sie müssen doch Vorbild sein!' Da pflanzte sich der Kolja aus der dritten Klasse direkt vor der Alten auf und entgegnet laut und deutlich: 'Wiesoo? Der ist doch leise!' Das war zuviel für diese Schachtel. Der Bus hielt gerade am Rathaus Zehlendorf. Sie stürmte zum Ausgang und verschwand."

"Eine herrliche Geschichte. Das nenne ich Berliner Humor. Kommt leider selten vor. Aber ich sehe gerade, dass wir gleich bei uns zu Hause sind. Siehst du, so schnell vergeht die Zeit."

Baldur Nitschke wartet, bis die Beiden den Bus verlassen haben. Dann prüft er, ob auch alles verständlich aufgezeichnet wurde. Trotz Fahrgeräusch und der Unterhaltung anderer Fahrgäste kann er die Unterhaltung vollständig verfolgen. Er schaltet die Aufnahmefunktion aus. Zu Hause, in seiner Erdgeschosswohnung in der Invalidensiedlung, erwartet ihn niemand. Er ist seit einigen Jahren Witwer und beschäftigt sich viel mit der Geschichte, die “...heutzutage immer so einseitig verzerrt ist.” Er klappt den Deckel seiner Olympia-Schreibmaschine hoch, legt sorgfältig einen Schreibmaschinenbogen mit mehreren Blättern ein, der oben links durch seinen Namen verziert wird, während darunter sich seine Anschrift in kleiner gesetzten Lettern befindet. Der Verbrauch an diesen teuren Bögen ist hoch. Er verfasst eine Menge Leserbriefe, Eingaben und Anzeigen, um in dieser anarchistischen Welt wieder die wahren Werte des Abendlandes zu verteidigen. Hinter dem Bogen befindet sich ein Arrangement in zweifacher Ausführung aus Kohlepapier, gefolgt von Durchschlagspapier, wovon er später die Durchschläge, sorgfältig mit Absendedatum versehen, in einen Aktenordner abheften wird.


Das Schreiben geht ihm leicht von der Hand. Die Anschläge könnten sich mit einem Maschinengewehr vor dem Fort Vaux im Jahre 1916 messen. Doch das ist 90 Jahre her. Die Anschrift akkurat für einen Fensterbriefumschlag eingerückt lautet: An den Leiter der Schulaufsichtsbehörde des Bezirks Steglitz-Zehlendorf, Hartmannsweilerweg, Berlin-Zehlendorf.

Danach folgt ein Absatz und hinter dem “Betr.:” disziplinloses Benehmen des Lehrers Studienrat Jürgen Hänschke von der Beethoven-Schule in Steglitz in der Öffentlichkeit mit Verunglimpfung der staatlichen Organe, Missbrauch der fdGO, ideologische Beeinflussung von jungen Bundesbürgern, Verdacht von kommunistischer Wühlarbeit seitens der Zonenorgane ”


Die Anrede ist etwas unbestimmt. "Sehr geehrter Herr Amtsleiter. Als aufrichtiger Bürger der Stadt Berlin und als Spross eines Amtsleiters im Bezirk Wedding, der an entscheidender Stelle eine besondere Verantwortung zu tragen wusste, solange das dortige Krematorium noch in Betrieb war, muss ich meiner Empörung Ausdruck geben. Mein Vater, der als Ingenieur und Arbeiter der Stirn zum Zeitpunkt meiner Geburt in Erfurt bei dem Unternehmen des Industrieofenbaus "Topf & Söhne" tätig war und mich stets Disziplin und Gehorsam lehrte sowie Genauigkeit in allen meinen Arbeiten verlangte, die mir später in verantwortungsvoller Position als Amtmann in der Unterabteilung Beschaffung des Gartenbauamtes Charlottenburg, heute Straßen- und Grünflächenamt Charlottenburg-Wilmersdorf, mehr als zugute kam. Ich habe für Sie ein Gespräch mit meinem modernen Funktelefon aufgenommen und anschließend auf Cassette überspielt. In dieser ungeheuerlichen Unterhaltung hat besagter angeblicher Studienrat Jürgen Hänschke vom Beethoven-Gymnasium in Steglitz gegenüber seinem mutmaßlichen Neffen nicht nur die freiheitlich-demokratische Grundordnung verunglimpft, sondern auch uns als pflichtbewusste Staatsdiener auf das Übelste beleidigt. Überzeugen Sie sich nach dem Anhören dieser Unterhaltung selbst. Meiner Dienstauffassung folgend ist dieser Herr, der offenbar aus der Amüsierstadt Köln in unser schönes Berlin übersiedelte, eine Gefahr für unsere Kinder und die Berliner Gesellschaft, die seit der Blockade treu zueinander und zu unseren amerikanischen Freunden steht. Der Mann ist sofort vom Schuldienst zu suspendieren und es hat eine Maßregelung zu geben, damit er sich hinter die Ohren schreiben kann, wie man sich in einer Weltstadt zu benehmen hat. Am besten wäre es, wenn er wieder nach Nordrhein-Westfalen zurück versetzt würde. Chaoten haben wir bereits schon genug.



mit vorzüglicher Hochachtung


Baldur Nitschke

Amtmann i.R.




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